Was geht mich das an? Zugepisode mit zwei Müttern und einem hilflosen Sohn
Holzhausen, Leipzig, 18.03.2022 – 12. März. Ein voller RB50. Ankunft am Leipziger Hauptbahnhof. Erste am Eingang ist eine Frau mit zwei Kindern und drei riesigen Taschen.
Um sie herum eine Traube von Menschen. Alle wollen aussteigen.
Zug hält. Tür geht auf. Die Frau versucht, die Taschen rauszuheben. Eine halbe Minute lang schafft sie es nicht.
In der Traube: Erste Unruhe. Dass ihr jemand helfen würde? Fehlanzeige.
Direkt an der Tür ein junger Mann. Vielleicht 18 Jahre. Hände in den Hosentaschen. Ich stehe hinter der Traube und rufe irgendwann zu ihm nach vorn: „Kannst Du der Frau nicht mal helfen?“
In der Traube: Betretenes Schweigen.
Der junge Mann zuckt zusammen, versucht aber zu ignorieren. Ich noch einmal: „Ja, Du an der Türe: Jetzt hilf mal dieser Frau.“ Darauf er zu mir: „Was geht mich das an?“
In der Traube: Betretenes Schweigen.
Ich zu ihm: „Du bist nicht alleine auf der Welt. Du siehst doch, dass da jemand Hilfe braucht. Du hast zwei Hände, also pack einfach an.“
Der junge Mann guckt ratlos in die Traube, als von da zwei Hände sich in seine Richtung strecken.
Sie nehmen ihn an der Schulter, ziehen ihn weg von der Tür und schieben ihn ins Innere des Zugabteils. Weg von dem Mann mit der lauten Stimme und raus aus der Situation, dass einem fremden Menschen geholfen werden müsste.
Die ausgestreckten Hände gehören einer Frau. Noch im Gehen, das Jungchen vor sich her schiebend, schickt sie einen feurig-bösen Schulterblick in meine Richtung.
Als sie mich dabei anzischt, dass ich gefälligst abhauen solle, wird klar, woher die Ignoranz des jungen Mannes kommt. Diese Frau ist seine Mutter.
Und die Frau mit den riesigen Taschen und den zwei Kindern? Sie hat es zwischenzeitlich auf den Bahnsteig geschafft. Nach kurzer Suche steuert sie direkt auf eine Gruppe mit blaugelben Schildern zu. Es ist eines der ersten Leipziger Willkommens-Team für Flüchtlinge aus der Ukraine.
Eine Episode, die mir noch lange in Erinnerung bleiben wird. Eine Mutter, die Hilfe braucht, ein junger Mann, den das nichts angeht, und in der Traube: Betretenes Schweigen.